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Objektgruppe Glas

Kelchgläser à la façon de Venise

a) Optisch gerippter Stiel eines Kelchglases, Fragment

FO: Lüneburg, Glockenhof (Kloake 3)
farbloses Glas mit minimalem Gelbstich („cristallo”),
H max. 6,8 cm; Ø Stiel max. 1,9 cm; Gd. Kuppaansatz 1,2 mm
Venedig, 1. H. 17. Jh.

Optisch gerippter Stiel
3fach eingeschnürter Stiel mit gekniffenen gegenständigen Fadenauflagen. Schmale Scheibe. Ansatz einer runden Kuppa.

Die Glasproduktion setzte in Venedig im Verlauf des 10. Jahrhunderts ein und war zunächst vermutlich noch an islamischen Vorbildern orientiert. Im Zusammenhang mit den Kreuzzügen holte man am Beginn des 13. Jahrhunderts byzantinische Glasbläser nach Venedig. Die hier hergestellte Glasmasse bestand aus der Asche von Sumpfpflanzen und gestoßenem Flusskiesel. Emailliertes Glas und Farbglas für Glasmalereien wurden im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts noch aus Syrien bezogen. Eine deutliche Verbesserung der Glasqualität erzielte man nach 1453, als man dazu überging, der Glasmasse kalk- und natronhaltige Pflanzenasche aus der Levante oder Alicante zuzugeben. Dieses Glas hat einen grauen, rauchglasartigen oder leicht gelblichen, strohfarbenen Stich und wird „cristallo” genannt. Aus dieser Glasmasse wurde das Kelchglas vom Glockenhof hergestellt, von dem lediglich ein Teil des Stieles erhalten geblieben ist. Die ehemalige Form des Kelchglases ist nur ansatzweise zu erschließen. Vergleichsbeispielen mit ähnlich geformtem Stiel nach zu urteilen, wird es sich um ein etwa 15-20 cm hohes, relativ schlichtes, aber elegantes Glas mit flacher Fußscheibe und runder Kuppa gehandelt haben.

b) Schlangenglas

FO: Lüneburg, Glockenhof (Kloake 4)
farbloses Glas mit minimalem Manganstich, türkise Auflagen, Z.T. stark getrübt, geklebt und ergänzt,
H 13,4 cm; Ø Fuß 7,3 cm; Ø Lippe 7,7/9,8 cm; Gd. 0,6 mm
Venedig (?), um 1600

Schlangenglas
Gewölbte Fußplatte mit glattem Rand. Schmale Scheibe mit kurzem Stiel. Optisch gerippter hohler Stiel unten spiralförmig zusammengerollt, nach oben dicker werdend. Türkisfarbene Auflage am oberen Teil des gerippten Stiels angesetzt und herausgekniffen, dann bis auf Spirale heruntergezogen. Kurzer massiver Stiel mit sehr kleiner Scheibe. 6passige halbkugelige Kuppa. Kaum verdickte Lippe.

Das sehr filigrane Kelchglas erinnert mit dem eingerollten „Schwanz” an ein Drachenglas aus dem Glasmuseum in Corning, U.S.A. Doch der optisch gerippte Stiel, der sowohl gerade als auch in verschiedenen Schwüngen vorkommt, findet sich an vielen Gläsern aus dem Ende des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das elegante Erscheinungsbild, die zurückhaltende Dekoration sowie die qualitätvolle Glasmasse und die Ausformung der Kuppa lassen darauf schließen, dass dieser Kelch in einer venezianischen Glashütte entstanden sein könnte.

c) Stiel eines Flügelglases, Fragment

FO: Lüneburg, Große Bäckerstraße 31 (Kloake)
farbloses Glas, rotweiße Glasfaden-Einlage, türkisblaue Auflagen,
H max. 8,8 cm; Gd. Kuppaansatz 1,3 mm
Deutschland oder Niederlande, 1. H. 17. Jh.

Stiel eines Flügelglases
Schaft aus geschwungenem farblosem Glasstab mit ineinander verdrehter roter und weißer Fadeneinlage. Flügel aus türkisblauem Glas hochgezogen und waffelartig gepresst. Große schmale Scheibe unter der Kuppa. Ansatz zu einer vermutlich konischen Kuppa.

Flügelgläser mit flachen Schäften, die aus gewundenen Fäden mit eingeschlossenen opaken oder farbigen Fäden geformt sind, zählen zu den beliebtesten Produkten der Glashütten, die nördlich der Alpen à la façon de Venise arbeiteten. Solche Gläser wurden insbesondere in den Niederlanden („verres à serpent”), aber auch in Deutschland, wie z.B. in Kassel hergestellt. Das Lüneburger Glas entspricht recht genau einem Flügelglas aus dem Kölner Museum für Angewandte Kunst.

d) Schlangenglas, Fragment

FO: Lüneburg, Grapengießerstraße 7-8 (Einzelfund)
farbloses Glas, weiß/gelb/grün/blaue Glasfaden-Einlage, türkisblaue Auflagen,
H max. 15,8 cm; Ø Lippe 7,3 cm; Gd. 0,8 mm
Deutschland oder Niederlande, 1. H. 17. Jh.

Schlangenglas, Fragment
Schaft aus mehrfach geschwungenem Glasstab mit weißen, gelben, grünen und blauen ineinander verdrehten Fäden. Türkisblaue, waffelartig herausgekniffene Auflagen. Große flache Scheibe unter der Kuppa. Schlanke, konische Kuppa. Lippe nicht verdickt.

Die Schlangengläser erhielten ihren Namen aufgrund der Ausbildung des Schaftes, der aus einem Glasstab mit oder ohne Fadeneinlagen gebildet wird. Oft wird bei diesen Gläsern der Mittelteil überbetont und der Verlauf des Glasstabes ist nicht sofort nachzuvollziehen. Die dazugehörige Kuppa ist in der Regel konisch (wie hier) oder trichterförmig. Damit wird das typisch venezianische Prinzip, auch bei außergewöhnlichen Formen gewisse Proportionen zu wahren, aufgegeben zugunsten einer eher komplizierten, oft schwerfällig erscheinende Form.

Autor: Peter Steppuhn; in: Glaskultur in Niedersachsen, 2003, 128 f. u. 131. (gekürzt)